“Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Geradheit des Wesens. Das ist das Gepräge des neuen Menschen, den wir mit Christus angezogen haben.” Der junge Diakon Karl Leisner schrieb diesen Satz 1938 in sein Tagebuch, bevor er dann wegen regimekritischer Äußerungen in die KZ Sachenshausen und Dachau inhaftiert wurde. In Dachau empfing er 1944 geheim die hl. Priesterweihe, zelebrierte nur eine einzige hl. Messe in seinem Priesterleben und starb kurz nach dem Ende des Krieges an den Entbehrungen und Misshandlungen im Lager. Im Jahr 1996 wurde er seliggesprochen.
Ja, es stimmt – “Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Geradheit des Wesens. Das ist das Gepräge des neuen Menschen, den wir mit Christus angezogen haben.” Umso mehr lohnt es sich heute die zweite der vier Kardinaltugenden, die Tugend der Gerechtigkeit, näher zu besehen. Eines ist klar: Die Tugend der Gerechtigkeit kostet ihren Preis, wie nicht nur das Beispiel von Karl Leisner und unzähliger Anderer zeigt. Denn meist ist das wahrhaft Gerechte in dieser Welt nicht siegreich, es kann sich nur selten oder nie gegen die Machtwillkür der Mächtigen durchsetzen. Was aber auffällt ist doch dies, dass der Anspruch der Gerechtigkeit dennoch so faszinierend ist, dass selbst die, die Gerechtigkeit mit ihrer Machtwillkür mit Füßen treten, zur Rechtfertigung ihres üblen Tuns sich noch das Deckmäntelchen der Gerechtigkeit umhängen wollen, also nie damit zufrieden sind, sich offen als ungerecht oder machtlüstern in ihrem Tun bezeichnen lassen zu wollen. Doch zur Tugend der Gerechtigkeit sind nicht nur die politischen Machthaber der Welt, sondern ist jeder Mensch, jeder Christ und dies in jeder Lage seines Lebens berufen. Gerechtigkeit ist eine Grundtugend des Menschen und des Christen. Ja der hl. Thomas sagt sogar von der Gerechtigkeit, dass der Mensch durch sie sein eigenes Wesen am reinsten darstelle. Nicht der aber, der Ungerechtigkeit erleiden muss, ist wirklich der zu Bemitleidende, sondern der, der die Ungerechtigkeit tut. Denn die Gerechtigkeit gehört zum Recht-sein, zum Richtig-sein des Menschen. Der Ungerechte entstellt sich also selbst und lebt gegen sein eigenes gutes Wesen.
Sie ist auch die höchste moralische Tugend – noch vor der Tapferkeit und noch vor dem Maßhalten, weil sie der Geistkraft des Menschen, dem Willen, zugeordnet ist.
Mehr als 800 Mal verwendet übrigens die Heilige Schrift den Begriff “gerecht” oder “Gerechtigkeit”, wobei der vollkommene Inbegriff des Gerechten immer Gott selbst ist und seine Gerechtigkeit, sogar seine strafende Gerechtigkeit, immer mit seiner Güte und Heiligkeit identisch ist. Aber auch der Mensch soll – nach der Lehre der Hl. Schrift – gerecht sein und gerecht leben, vor Gott und den Anderen. Nicht im Sinn einer eingebildeten, pharisäischen Scheingerechtigkeit, sondern in gerader Wahrhaftigkeit.
Versuchen wir nun die Tugend der Gerechtigkeit näher zu beschreiben.
1) Die Tugend der Gerechtigkeit steht in einer engen Beziehung zur ersten Tugend der Klugheit. Sie – so haben wir am letzten Sonntag gesagt – ist ja die Lenkerin aller anderen Tugenden, da sie ihnen die Regel in der Erkenntnis vorgibt. Durch die Klugheit können wir uns für das wahrhaft Gute – nicht für eine selbstgemachte Einbildung des Guten -in jeder Lage unseres Lebens entschließen und gleichzeitig die rechten Mittel zur Verwirklichung des erkannten und beschlossenen Guten wählen. Zuerst muss ich also klug erkennen, wo denn das Gute wirklich und wahrhaftig liegt und wie ich das Gute verwirklichen kann, um auf dieser Grundlage der Klugheit dann das Gute auch zu wollen und zu tun. Nur der kluge Mensch kann auch gerecht sein und der gerechte Mensch muss immer klug sein. Wo die wahre Klugheit aber fehlt, wird gesagt, es sei ganz unerheblich ob und was jemandem der Wahrheit nach der Gerechtigkeit zusteht und die ärgste Ungerechtigkeit ist hier die Folge.
2) Der Tugendrang der Gerechtigkeit?
Der hl. Thomas rühmt also die Tugend der Gerechtigkeit als die höchste und vornehmste aller moralischen Tugenden. Er begründet dies damit, dass der gerechte Mensch nicht nur für sich selbst gut ist, sondern sein Gutsein auch für den Anderen gebraucht. Die Gerechtigkeit ist also jene Tugend, die den Menschen auf den Anderen hin ordnet und gut macht. Der Mensch wächst also in der Gerechtigkeit über sich selbst hinaus. Es geht um die Person, den Anspruch, das Leben, die geistigen und materiellen Güter, die dem Anderen gerechterweise geschuldet sind. Und gleichzeitig geht es um das äußere Tun bei der Gerechtigkeit, das diesen gerechten Anspruch respektiert. Alles äußere Tun des Menschen – ohne Ausnahme – gehört also in den Bezirk der Gerechtigkeit. Zwischen Liebenden gibt es deshalb nicht im eigentlichen oder einen Sinn Gerechtigkeit, wohl aber muss die Liebe immer auf der Gerechtigkeit erbaut sein und darf niemals ungerecht sein. Gerechtigkeit und Liebe durchformen sich gegenseitig.
3) Was ist nun die Tugend der Gerechtigkeit?
Die Tugend der Gerechtigkeit, so wieder der hl. Thomas, ist der feste und beständige Wille, jedem Anderen das SEINE, also das ihm Zustehende oder Geschuldete, zu geben. Unrecht aber bedeutet, dem Anderen – Gott oder dem Menschen – das ihm Zustehende vorzuenthalten oder zu nehmen. Selten wird jemand immer ungerecht sein, jedoch immer und unter allen Umständen gerecht zu handeln – das braucht die tugendhafte Haltung der Gerechtigkeit, in der wir es zur Meisterschaft bringen sollen.
Gerechtigkeit ist aber nur dann möglich, wenn es vorher etwas gibt, worauf wir wirklich einen unabdingbaren Anspruch vom Anderen her haben. Nur die Geistperson ist so aber Rechtsträger, nur sie kann diesen Anspruch stellen, weil sie als das Abbild und die Kreatur Gottes Rechte besitzt, die ihr nicht Menschen zugestehen, sondern die ihr Gott unabdingbar gegeben hat. Und der hl. Thomas sagt in Bezug auf eine Stelle des Buches der Weisheit von Gott sogar, dass er über uns mit “großer Ehrfurcht” verfüge, eben weil er uns als freie und geistig begabte Personen geschaffen und uns Rechte verliehen hat. Erst von Gott her gibt es eine endgültige und absolute Grundlage für die Forderung nach Gerechtigkeit gegen jede Verwilderung der Machtpraxis. Dies gilt auch für die Rechte der Ungeborenen und der Sterbenden.
4) Der Partner, dem ich das Seine in meinem Tun und Handeln zugestehen muss, um gerecht zu sein, kann der EINZELNE sein, dessen Recht geachtet werden muss, der Mensch also, aber auch Gott. Die ganze Gottesverehrung sieht der hl. Thomas deshalb als eine Gerechtigkeitspflicht des Menschen gegenüber Gott.
Schließlich kann der Partner, dem die Gerechtigkeit zusteht aber auch das GEMEINWOHL des sozialen Ganzen sein, dem jedes Individuum verpflichtet ist, weil auch das private Schuldigbleiben (nicht nur der Steuern oder pflichtgemäßen Abgaben!) das Gemeinwohl schädigt. Es geht aber immer um einen Partner bei der Gerechtigkeit, nie nur um die Beachtung eines Gesetzes oder einer Vorschrift. Nur das gerecht Zustehende und Geschuldete kann in erster Linie von außen und von der Sache her bestimmt werden. Tapferkeit und Maßhalten liegen zuerst in der inneren Verfassung des Menschen. Der große Philosoph JOSEPH PIEPER verdeutlicht dies an folgendem Beispiel: Wie viel Wein ich trinken darf, um das rechte Maß nicht zu verletzen, kann kaum von außen oder von jemand anderem bestimmt werden. Dagegen kann jedermann von außen und der Sache nach leicht feststellen, dass ich dem Wirt den gerechten Preis für die Flasche Wein, die ich getrunken habe, schuldig geblieben bin, wenn ich die Zeche nicht bezahlen will.
5) Wann herrscht in einem Gemeinwesen Gerechtigkeit?
Auch wenn nur der Einzelne im strengen Sinn gerecht sein kann, hat die Gerechtigkeit ihren Ort doch im menschlichen Miteinander der Familie, des Betriebs, des öffentlichen und politischen Gemeinwesens, ja auch in jeder kirchlichen Gemeinde müsste die Tugend der Gerechtigkeit die selbstverständlich von allen geachtete (!) und erste Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens sein, noch vor den spezifisch kirchlichen Wesenszügen, denen sie als Kirchengemeinde in besonderer Weise verpflichtet ist.
Gerechtigkeit kann nur dann herrschen, so der hl. Thomas, wenn drei fundamentale Grundverhältnisse im Gemeinwesen gerecht geordnet und von allen gewahrt werden:
1. Müssen die Beziehungen der Einzelnen zueinander gerecht sein, was durch die sogenannte ausgleichende Gerechtigkeit garantiert wird.
2. Müssen die Beziehungen der Einzelnen zum sozialen Ganzen gerecht sein, was durch die allgemeine Gerechtigkeit der Fall ist.
3. Muss die Beziehung des sozialen Ganzen zu den Einzelnen gerecht sein, was durch die zuteilende Gerechtigkeit erfolgt.
6) Diese drei Grundordnungen der Gerechtigkeit unterscheiden sich aber voneinander. Denn der Träger der ausgleichenden Gerechtigkeit ist der EINZELNE als Partner des EINZELNEN. Nur wo einzelne Menschen sich als gleichrangige Partner gegenüberstehen, die sich gegenseitig das ihnen Zustehende geben, damit aber einen gerechten Ausgleich zwischen ihnen bewirken, besteht die Tugend der Gerechtigkeit am Reinsten. Zwischen Gott und Mensch kann nie diese Gerechtigkeit bestehen, weil Gott dem Menschen nichts schuldet. Es ist übrigens schon etwas Großes, wenn ein Mensch, der den Anderen nicht “riechen” kann, ihm diese Form der ausgleichenden Gerechtigkeit zubilligt, sich also mit ihm gerecht verträgt. Nicht über ihn ungerecht urteilt, ihn nicht diffamiert und verleumdet usw. Denn dadurch erkennt er das Recht des Anderen an. Auf jeden Fall ist sie wahrer, besser und christlicher, als ein lügnerisches Getue, das künstlich Sympathie oder Liebe dem Anderen gegenüber heuchelt, den man in Wirklichkeit eben nicht riechen kann. Diese ausgleichende Gerechtigkeit muss von uns im Umgang miteinander immer wieder neu gesucht und gefunden werden.
7) Die allgemeine Gerechtigkeit ist dann aber die zweite Ebene der Gerechtigkeit. Sie nimmt nun den EINZELNEN in Pflicht und zwar in Bezug auf das, was von ihm dem GEMEINWOHL gegenüber gerechterweise geschuldet wird. Keiner lebt sich selber. Denn der Einzelne ist immer schon dem sozialen Ganzen verpflichtet und dies von seiner Familie her, in die er hineingeboren wurde, dann aber auch von allen anderen Formen der natürlichen oder übernatürlichen Gesellschaftlichkeit her, die der Einzelne auch zur Kultivierung seiner Individual- und seiner Sozialnatur braucht. Beide Partner in dieser Ebene der Gerechtigkeit – der Einzelne und das Gemeinwohl – sind im Gegensatz zur ausgleichenden Gerechtigkeit zwischen den Einzelnen aber nicht gleichen Ranges, weil das Gemeinwohl von einer anderen, höheren Ordnung ist, als das Wohl des Einzelnen oder das Summenwohl der Einzelnen. Unter Gemeinwohl verstehen wir den Inbegriff aller Güter, für die eine Gemeinschaft – als solche – existiert und die ein Gemeinwesen erreichen will. Wichtig ist, dass der Anspruch des Gemeinwohls auch deutlich unterschieden wird von Privatinteressen Einzelner oder von Gruppen. So muss auch eine Kirchengemeinde, ein gesellschaftliches WIR mit entsprechendem Gemeinsinn jedes einzelnen sein, niemals nur eine Ansammlung von bloß privat miteinander verbundenen ICHS, ebenso wenig darf sie aber auch ein Sammelsurium beziehungsloser Kleingruppen sein, denen es vorwiegend um sich selbst geht, nie aber um die Kirche und die Gemeinde als Ganzer im Sinn des Gemeinwohls. Denn so werden die Verpflichtungen dem Gemeinwohl gegenüber und damit auch die Gerechtigkeit verletzt.
Gerade im Hinblick auf diese zweite Ebene der Gerechtigkeit ist das Bewusstsein Vieler heute völlig verkümmert, die einerseits nur Ansprüche und Forderungen an das Gemeinwohl stellen, die ihnen angenehm sind oder von vermeintlichem Vorteil, die aber mit ihrer eigene Schuldigkeit dem Gemeinwohl gegenüber ungerecht knausern. Ja dies kann sogar soweit gehen, dass man durch eine gewisse Bauernschläue überhaupt leugnen will, was denn in Wahrheit dem Gemeinwohl gegenüber eigentlich zu leisten wäre. Und dies um sich selbst gerecht zu machen.
Ein Staat, der so nur noch als Melkkuh missbraucht wird, muss zugrunde gehen. Eine Kirchengemeinde, wo alles Private wichtiger ist, als die Bedürfnisse des Gemeinwohls, wird ebenfalls keinen Bestand haben.
8) Kommen wir nun zur dritten Ebene der Gerechtigkeit. Der Träger der sogenannten zuteilenden Gerechtigkeit, die vom SOZIALEN GANZEN her und auf den EINZELNEN hin geschuldet ist, ist nicht das soziale Ganze selbst, sondern immer der verantwortliche Verwalter des Gemeinwohls, also etwa der Betriebschef in einem Berieb, der Bundeskanzler im Staat, aber auch der Rektor in einer Rektoratsgemeinde. Des Verwalters des Gemeinwohls schwierige Pflicht ist es, Lasten und Güter für die Einzelnen gerecht zu verteilen.
Bei der zuteilenden Gerechtigkeit ist der Einzelne der forderungsberechtigte Teil, denn ihm steht ein gerechter Anteil an jenen Gütern zu, die allen gehören. Diesen verhältnismäßigen (nicht zahlenmäßigen) Anteil aber kann nur der Zuteilende bestimmen, niemals der Fordernde.
Hier ist zu erinnern: Es gibt kein hoffnungsloseres Übel als ungerechte Herrschaft, die darin besteht, dass der Verwalter des Gemeinwohls seiner Aufgabe in der zuteilenden Gerechtigkeit nicht gerecht nachkommt. Dann kommt es zur inneren Korruption der Gerechtigkeit im Gemeinwesen, wie wir es heute so deutlich und allerorten erleben. Allerdings kann diesen Missstand nur die Gerechtigkeit des Herrschenden verhindern, niemals schafft die Durchsetzung von vermeintlichen oder wirklichen Rechten der Untertanen Gerechtigkeit. Ja – und auch das muss gesagt sein – eine anonyme Maschinerie der Herrschaft, wie sie etwa im demokratischen Staat aufgebaut wurde, ist niemals in der Lage, die Korruption der Gerechtigkeit wirksam zu besiegen, sondern ist deren Voraussetzung. Und Josef Pieper lehrt dazu: “Wenn das politische Leben seine Würde wiedererlangen soll, dann muss im Volke das Gefühl für die Größe des Regierens und für den damit verknüpften hohen menschlichen Anspruch wiederhergestellt werden. Dies bedeutet präzis das Gegenteil totalitärer Machtverherrlichung.” Es sollte klar sein, dass wo Klugheit und Gerechtigkeit fehlen, die Tauglichkeit für eine sinnvolle Machtausübung der Regierenden fehlen.
9) Nur der Gerechte ist gut. Bei aller Wichtigkeit der Tugend der Gerechtigkeit bei den Einzelnen, bei den Leitenden und bei den Untergebenen: Die Welt kann durch Gerechtigkeit allein nicht in Ordnung gebracht werden. Weil die tiefste Wurzel der Ungerechtigkeit, die Sünde, nur durch die Erlösung des einzig Sündelosen wiedergutgemacht werden konnte. Und so wie er, Jesus Christus – über alle strenge Gerechtigkeit hinaus aus freiwilliger Liebe sich verschenkt hat – müssten auch wir geben und uns bemühen, über das hinaus, was im Sinn der Gerechtigkeit streng geschuldet ist. Einfach deshalb, weil wir wissen, dass wir von Gott und von Menschen Beschenkte sind, die immer in Schuld stehen, aber diese Schuld nie selbst ableisten können. Dieses Bewusstsein kann uns bereit machen, auch Ungeschuldetes zu leisten, also von Herzen freigebig zu werden.
R. Knittel.