(Glaubensvortrag 2011)
Das Thema der vier Glaubensvorträge in diesem Jahr sind also die Kardinal – oder Grundtugenden des menschlichen Lebens.
Uns trifft ja, leider oft nicht ganz zu zurecht, der Vorwurf: “Schaut auf die Ungläubigen, die Heiden – sie sind mitunter rücksichtsvollere, angenehmere, arbeitsamere, ehrlichere, hilfsbereitere, mitfühlendere, großzügigere und dankbarere Menschen als ihr, die ihr immer in die Kirche rennt!”
Es fehlt uns also oft an der Sorge und an der Pflege der guten menschlichen Eigenschaften, ohne die aber das ganze religiöse Leben – übrigens auch das gesellschaftliche Leben als wirkliche Kirchengemeinde – in der Luft hängt und unglaubwürdig wird. Immerhin heißt es ja auch im Evangelium von unserem Herrn und Heiland Jesus Christus nicht nur, daß er in der innigsten Nähe zum himmlischen Vater gelebt hat, sondern daß er ebenso auch alle jene Vorzüge besaß, die ihn angenehm vor den Menschen machte. Deshalb gehört auch nicht nur die Mahnung zu Glaube, Hoffnung und Liebe zum Inhalt des apostolischen Briefgutes im NT, sondern ebenso auch die Mahnung zu Freundlichkeit, Geduld, Güte, Treue, Zucht, Ausdauer, Brudergesinnung und tapferer Entschlossenheit, also zu den menschlichen oder moralischen Tugenden des Menschen.
Im gesund verstandenen Tugendstreben gibt es aber nichts Zwanghaftes oder Verklemmtes. Die Tugenden sind vielmehr eine Art Lebenslehre für den Menschen, die ihn – wie das Evangelium von Christus sagt – eben angenehm vor Gott und den Menschen machen.
Doch bevor wir die erste der vier Grundtugenden des Menschenlebens näher betrachten, wollen wir fragen: Was ist denn eine Tugend, insbesondere eine menschliche oder moralische Tugend?
1) Die Tugendlehre ist ja keine Erfindung des Christentums, sondern ein wertvolles Erbe, das wir aus dem frühesten Nachdenken der Menschheit überliefert erhalten haben, das Griechen, Römer, Juden und Christen weitergetragen haben. So kennen schon Plato und Aristoteles die vier wichtigen Grundtugenden des Menschen, die dann ebenfalls im alttestamentlichen Buch der Weisheit aufgezählt werden. Bei allen Gemeinsamkeiten ist dem christlichen Tugendbegriff allerdings der Leistungsgedanke fremd, der die Tugend zu einer stolzen Eigenleistung des Menschen macht. Im christlichen Tugendbegriff hat hingegen die göttliche Ebene den Vorrang, die den Menschen von seiner Seele her zu einem tugendhaften Leben erst einmal überhaupt befähigt. Auch wenn die moralischen Tugenden schon zum Menschsein selbst und überhaupt gehören, bilden sie für den Getauften zusätzlich auch die Grundweisen, in denen der Christ seinen Alltag in Gehorsam und Liebe zu Christus vollziehen soll.
2) Wir unterscheiden mit dem hl. Thomas und der Glaubenslehre der Kirche zwischen den göttlichen und den menschlichen oder moralischen Tugenden. Die göttlichen Tugenden (Glaube/Hoffnung und Liebe) richten sich direkt auf Gott und werden von Gott bei der hl. Taufe als Anlage oder als Keim wurzelhaft in die Seele des Menschen eingegossen, man spricht deshalb hier von “eingegossenen” Tugenden.
Die menschlichen Tugenden hingegen haben nicht direkt mit Gott zu tun, sondern mit der endlichen, geschaffenen Welt und unserem Leben in dieser Welt. Tugenden sind prägende Grundhaltungen oder Neigungen des Menschen, die ihn befähigen, das Gute in seinem irdischen Leben treffsicher, leicht und immer zu tun. Doch die natürliche Anlage zur Tugend (bei den menschlichen oder moralischen Tugenden) bzw. die Eingießung durch Gott (bei den göttlichen und den menschlich-moralischen Tugenden) reichen noch nicht aus, um tatsächlich die Tugenden zum Blühen zu bringen. Dazu braucht es etwas ganz wichtiges, nämlich die eigene Übung und Mühe um die Tugenden. Erst damit kommen wir zur Meisterschaft in den Tugenden. Ohne Mühe und Übung können die Tugendwurzeln in unserer Seele nicht zur Blüte kommen.
3) Das Gegenteil zur Tugend ist nicht die Einzelsünde, sondern das Laster. Das Laster ist eine durch Verfestigung im bösen Tun bewirkte Durchformung des Menschen im Bösen, vor allem durch schlechte Gewohnheiten, die oft durch Fehlleitung oder Fixierung aus der Kindheit grundgelegt sind. Die Laster – sofern man ihnen nicht durch entgegengesetztes Bemühen begegnet – führen zu einem fortschreitenden Verfall des ganzen sittlichen Lebens. Wir zählen zu den Lastern insbesondere die sieben Hauptsünden, also Hoffart, Geiz, Neid, Unmäßigkeit, Unkeuschheit, Zorn, Trägheit.
4) Die vier Kardinaltugenden sind also die Angel- oder Grundtugenden, weil sie die vier Grundkräfte im Menschen durchformen und prägen, nämlich 1) die menschliche Erkenntniskraft – auf sie ist die Tugend der Klugheit gerichtet – sodann 2) die menschliche Willenskraft – auf sie zielt die Tugend der Gerechtigkeit – dann 3) die Kraft des sinnlichen Strebevermögen des Menschen, das uns in zwei Formen entgegentritt: nämlich einmal als muthaftes Streben, das die Tugend der Tapferkeit braucht, das dann aber als sinnliches Begehren die Tugend des Maßhaltens oder der Zucht benötigt.
5) Nun also zu ersten der vier Tugenden, die an der Spitze der Kardinaltugenden steht, zur hohen Tugend der Klugheit. Sie wird in der Hl. Schrift und bei den Kirchenvätern gerühmt, als “Quelle” oder “Auge” des Lebens. Alle diese Bildvergleiche wollen sagen: Die Klugheit hat mit dem Erkennen des Menschen zu tun und sie ist vor-rangig im Tugendgebäude, sie ist also die Lenkerin aller anderen Tugenden. Eigentlich ist es ja ganz einfach: Nur wer das Gute in jeder Lage ganz genau erfasst, wer also klug ist, der kann auch die richtigen Mittel ergreifen, um das Gute dann gerecht, tapfer und maßvoll zu tun. Ohne Klugheit gibt es also keine andere Tugend für den Menschen, erst die Klugheit formt aus instinkthafter Richtigkeit im Handeln des Menschen die Tugend. Jede Sünde ist übrigens ein Verstoß oder ein Mangel an Klugheit.
6) Aus dem Evangelium wissen wir, daß es zwei Arten von “Klugheit” gibt. Einerseits – die richtige, wahre und tugendhafte Klugheit, zu der uns der Herr auffordert, wenn er etwa vom getreuen und klugen Knecht spricht, der nicht vom Tag des Herrn wie die Toren überrascht wird. Dann aber weiß auch das Evangelium von einer falschen, eingebildeten, weltlichen Klugheit, die den Jünger Christi nicht ziert. Leider gebrauchen wir in unserem Sprachgebrauch “Klugheit” oft nur im Sinn dieser falschen, weltlichen Klugheit. So gilt die Klugheit uns nur als eigensüchtige Besorgtheit um uns selbst, die im Geschick besteht, einer grundsätzlichen Entscheidung für das Gute “diplomatisch-schlau” aus dem Weg zu gehen. Der “bauernschlaue” Taktiker, der selbstsüchtig seine eigenen Ziele im Sinn hat, nicht die Wahrheit des Wirklichen und damit das wahre Gut des Lebens, wird dann völlig zu Unrecht von uns als klug gepriesen. Jeder Kampf, der den Einsatz der Tapferkeit als Tugend bräuchte, wird in dieser falschen Sichtweise als “unklug” (natürlich im Sinn der falschen Klugheit) bezeichnet. Als unkluger Überschwang wird spießerisch bezeichnet, was eigentlich die kluge Mühe um das rechte Maß ausmachen würde. Die falsche Klugheit der Welt trägt also nicht die anderen Tugenden, sondern sie verhindert sie von Grund auf. Der hl. Thomas von Aquin lehrt, daß alle falschen Klugheiten und “Überklugheiten” letztlich vom GEIZ herkommen und ihm wesensverwandt seien. Geiz meint hier im umfassenden Sinn, das maßlose Streben nach all der HABE, durch die der Mensch sich seine eigenen Größe und Sicherheit bewahren will, also aller “ich-haften” Interessen. Genau dies ist der Klugheit, die nicht diese Verkrampfung auf das Ich, sondern das WIRKLICHE GUT erkennend sieht und dann auch will, vom Grund her entgegengesetzt. Der geizige Mensch ist nie klug!
Wahre Klugheit hat überhaupt nichts mit Schüchternheit oder Ängstlichkeit im Leben zu tun, genausowenig darf sie mit Doppelzüngigkeit, Verstellung oder Intrigantentum verwechselt werden.
7) Was macht die Tugend der Klugheit aus und wie kommt sie zustande?
Der kluge Mensch besitzt eine Fertigkeit in seiner praktischen Vernunft, die ihm hilft, in seinem Gewissensurteil in jeder Lage das wahre Gut richtig zu erfassen und dann die richtigen Mittel zu wählen, um das Gute zu erlangen bzw. die Konsequenzen dieser Wahl auch vorauszusehen. Dazu braucht es aber drei Phasen der Klugheit: zunächst die Phase der Überlegung. Um klug sein zu können, müssen zunächst die objektive Wirklichkeit der Dinge und die moralischen Grundsätze, die dem Gewissen als Richtschnur dienen, sachgerecht, d.h. ihrer eigenen Wirklichkeit nach erkannt und überlegt werden. Was heißt das? Nur eine “gute Absicht” oder eine “Meinung” des Menschen reicht zu dieser klugen Überlegung nicht aus, ebensowenig die leider weit verbreitete “Unsachlichkeit” im Denken, daß man die Wirklichkeit nicht so sieht, wie sie wirklich ist, sondern wie man “glaubt”, daß sie ist oder wie man sie selbst gerne haben möchte. Das verbaut den Weg zur Klugheit absolut.
Aber auch Unbelehrbarkeit und Besserwisserei sind Formen des Widerstands gegen die Wahrheit der wirklichen Dinge und Anzeichen dafür, daß sich das Subjekt mit seinem kleinen “Eigeninteresse” bestimmend in den Vordergrund schieben will, sodaß die W irklichkeit nicht mehr erkannt wird und die Klugheit verhindert wird. Nur wo die ichhaften Interessen des Subjekts zum Schweigen gebracht werden, gibt es Klugheit. Hilfen für die Erlangung der Klugheit sind nüchternes Studium der Wirklichkeit, eigene Erfahrungen und der Rat kluger Personen.
Mit der Überlegung ist aber nur der erste Schritt zur Klugheit getan. Denn wenn alles genau überlegt ist, muß die zweite Phase des Urteils kommen, wo der Kluge also die konkrete Handlung beurteilt, die er tun will und welche Mittel dazu heranzuziehen sind. Unklug ist, in sich schlechte oder falsche Wege zum Ziel der Klugheit zu suchen.
Dann aber muß als dritter Schritt und entscheidender Schritt der Klugheit der Beschluß des Willens gefasst werden, ob die Handlung zu tun oder nicht zu tun ist.
8) Klug ist nicht, wer unendlich lang die Für und Wieder einer Handlung hin- und herüberlegt, ohne zu einem Beschluß des Willens und damit zur Tat zu kommen. Sicher muß zunächst genügend überlegt und abgewogen werden – wenn man heiratet, mehr und genauer, als wenn es darum geht, ob man sich ein Paar Schuhe kauft. Nach dem hl. Thomas soll man deshalb langsam sein im Überlegen, aber man soll rasch sein im Übergang zur Tat. Also, wenn das Urteil einmal gut im Licht der Wahrheit überlegt ist und der Beschluß gefasst ist, soll man ohne Zögern die Tat folgen lassen. Nicht nur die Unbesonnenheit – wo die rechte Überlegung und das begründete Urteil hingegen fehlt – verstößt also gegen die Klugheit, sondern auch die Unschlüssigkeit, die nie zur Tat kommt. Das “Lob” der Klugheit ist nicht fruchtlose Zauderei, sondern die rasche und rechtzeitige Umsetzung des nüchtern und sorgfältig überlegten Beschlusses.
9) Durch die Gnade göttlicher Führung, durch die Erfahrung des gelebten Lebens, durch Wachheit und Gesundheit des instinktiven Abschätzungsvermögens, durch die wirklichkeitsgemäße und moralisch rechte Ausrichtung des Wollens erwachsen uns die nötigen Grundlagen für die wahre Tugend der Klugheit. Der erste Akt der Klugheit aber ist die Erkenntnis der eigenen Grenzen und das Wissen darum, daß wir immer wieder ganz von Vorne anfangen müssen mit dem Mühen um die Klugheit. Die Klugheit ist eben ein “steiles Gut”. Merken wir uns: Nicht der ist klug, der niemals irrt, sondern derjenige, der es fertig bringt, seine Fehler zu berichtigen, auch wenn er dadurch zehnmal neu irren kann.
R. Knittel.