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Warum lateinische Messe? Tugend der Klugheit Tugend der Tapferkeit Tugend der Zucht und des Maßes Tugend der Gerechtigkeit

Die Tugend der Zucht und des Maßes

Als wahre Weisheit des Lebens bezeichnet der Weisheitslehrer Jesus ben Sira im AT den Grundsatz: "Folge nicht deinem Herzen und deinen Augen, um nach den Begierden deiner Seele zu leben." Es geht heute also um die Darstellung der vierten und letzten Kardinaltugend, der Tugend der Zucht und des Maßes. Denn wer in dieser Welt, wie es im Titusbrief heißt, "besonnen, gerecht und fromm" leben will, der muß auch die Tugend der Zucht und des Maßes üben und ausbilden. Sie ist ein Tor zum Leben.
Allerdings ist schon der Name dieser Tugend, die im Lateinischen ja temperantia heißt, in der deutschen Sprache nur schwer ganz genau übersetzbar. Vielleicht ist auch das mit ein Grund, warum diese Tugend so wenig verstanden und so wenig geübt wird.
Es gibt kein Wort, das den damit gemeinten Sachverhalt genügend ausdrücken könnte, deshalb auch hier die Zweiheit von "Zucht und Maß". Diese Tugend ist heute vielfach als Ausdruck eines "veralteten Moralismus" in Verruf geraten, ja sie wird gänzlich mißverstanden. So reden wir heute etwa von Mäßigkeit bestenfalls, wenn es um das Essen oder Trinken geht, wobei bei vielen allein das äußere Mengenmaß entscheidet, das Ziel aber nicht innerer Tugenderwerb ist, sondern bestenfalls die "schlanke Linie" oder körperliche Gesundheit. Oder das schöne deutsche Wort "Mäßigung" wird immer dann in Anschlag gebracht, wenn man irgendwelchen Überschwang vermutet und den sofort abwehren will. Meist dann, wenn Wahrheitsliebe oder sonst eine adlige Tugend des Herzens das Äußerste zu wagen bereit und gewillt ist. Da mahnen die Feigen und Faulen dann sofort zur "Mäßigung".
In einer Welt, deren "Credo" das sinnliche Genußstreben ohne Grenzen ist, wird Maß oder Mäßigkeit ausschließlich als negative Einschränkung gesehen, in dem Sinn, daß diese Tugend es dem Menschen einfach nicht gönnen will, ungehemmt seinen Sinnen zu frönen. Es meint also nur die moralische Kandare, die man durch Kultur und Religion angelegt erhält und die man nach Möglichkeit als angebliche "Fremdbestimmung" wieder abstreifen solle, weil sie dem eigenen sinnlichen Begehren widerstrebt. Genau das aber geht am eigentlichen Ursinn dieser Tugend vorbei. Denn dieser Ursinn zielt auf etwas anderes, nämlich auf den Gewinn einer "ordnenden Verständigkeit", die dem Menschen hilft, die verschiedenartigen Teile in seinem Wesen in ein einziges, stimmig geordnetes Ganzes zu bringen.
Versuchen wir nun ein wenig mehr Licht in diese herrliche, dem Menschen würdige Tugend zu bringen.

1) Der Tugendrang von Zucht und Maß und die Verbindung zu den drei anderen Tugenden
Zucht und Maß sind in der Anordnung der Tugenden nicht die erste, sondern die letzte der vier Kardinaltugenden. Dies ist bedeutsam. Nicht so natürlich, daß die Tugend von Zucht und Maß der Bedeutung nach letztrangig wäre, sondern so, daß sie die Leitung durch die anderen drei Tugenden braucht, diese also notwendig voraussetzt. Nur der kluge, gerechte und tapfere Mensch kann auch die rechte Zucht und das gebührende Maß finden und üben. Diese Anordnung der Tugenden ist nicht willkürlich, sondern sie spiegelt die innere Ordnung der Kräfte im Menschen, die uns, im Gegensatz zur Pflanzen- oder Tierwelt nicht einfach vorgegeben ist, sondern die wir mit Vernunft und freiem Willen in uns suchen und aufbauen müssen.
In dieser Ordnung muß der menschliche Geist mit der Kraft der Vernunft und des Willens an der leitenden Spitze im Handeln des Menschen stehen, dem die Tugenden der Klugheit und der Gerechtigkeit zugeordnet sind. Erst dann folgt die Sinnlichkeit des Menschen, auf die die Tugend der Tapferkeit und die Tugend von Zucht und Maß gerichtet sind. Noch einmal sei wiederholt: das sinnliche Strebevermögen gehört zum gottgeschaffenen und gottgewollten Wesen des Menschen, es ist niemals in sich böse oder des Menschen unwürdig. Wohl aber braucht es eine Unterordnung der Sinnlichkeit unter die leitende Macht der Vernunft und des Willens, weil das sinnliche Streben nur so dem Guten dienen kann und nicht selbstzerstörerisch wird. Eine der schlimmen Folgen der von den Ureltern überkommenen Erbsünde ist ja auch die, daß diese heilige Ordnung im Inneren der Kräfte des Menschen so auf den Kopf gestellt worden ist, daß das sinnliche Strebevermögen, das eigentlich ja gut ist und dem Menschen dient, im Gegenteil eine verheerende Macht der Zerstörung im Menschen geworden ist. Diese verheerende Zerstörungsmacht des sinnlichen Strebens erklärt sich daraus, daß der Mensch kraft seines Geistes auf das unendliche Gut, auf Gott hin angelegt ist. So ist auch sein sinnliches Streben seiner Natur nach immer unersättlich, ist geplagt von einer unstillbaren Sehnsucht, von einer geheimen Unruhe. Da nun aber diese Ausrichtung auf Gott durch die Erbsünde zerstört wurde, will der sündige Mensch aus seiner eigenen Entscheidungsmitte heraus die Unruhe des Herzens nicht in Gott zur Ruhe bringen. Und er überschreitet das ihm von Gott für den Gebrauch der irdischen Dinge gesetzte Maß. Das menschliche Streben verliert sich so ins Maß-lose. Er vergöttert die endlichen Dinge (Lust, Reichtum, Macht, Ehre). Die animalische Gier bemächtigt sich des Geistes, der eigentlich ja den Menschen ordnen und leiten sollte. Die Folge ist Unersättlichkeit nach immer raffinierterem Genuß, immer mehr Steigerung von Gewinn und Macht. Nur die Folgen der Erbsünde erklären uns letztlich die innere Unordnung im Menschen bis hin zur völligen Zerstörung durch die eigene Sinnlichkeit. Während der Christ durch die Gnade Jesu Christi und durch das Mühen um die Tugenden die innere Ordnung seiner Kräfte wieder aufbauen und bewahren will, zeigt die Welt das gegenteilige Bild: Massen, die sich der Zerstörungmacht der Sinnlichkeit einfach überlassen, so aber unter der Herrschaft des Teufels leben.

2. Was ist nun also die Tugend von Zucht und Maß?
Im Unterschied zu den anderen drei Tugenden richtet sich die Tugend von Zucht und Maß immer auf die innere Ordnung im Menschen selbst, somit also auf den einzelnen Menschen, der das Gute tut. Der Kluge hingegen vergisst sein Eigeninteresse und blickt auf die Seinswirklichkeit, wie sie ist. Der Gerechte blickt nicht auf sich selbst, sondern auf das äußere Tun am Anderen. Der Tapfere vergißt sich selbst und gibt Gut und Leben dahin. Nur der zucht- und maßvolle Mensch richtet Blick und Willen auf sich selbst. Allerdings ist diese Hinkehr - wie JOSEPH PIEPER sehr schön unterscheidet - zu sich selbst grundsätzlich uns Menschen in zwei Weisen möglich: einmal so, daß diese Hinkehr selbst-los geschieht, also so, daß der Mensch bei dieser Hinkehr zu sich selbst, sich nicht egoistisch auf sich selbst fixiert, dann aber auch als selbst-ische Hinkehr, wo der Mensch sich so auf sich selbst bezieht, daß sich alles um ihn selbst zu drehen beginnt. So aber wird diese Hinkehr zu Wichtigtuerei, Eitelkeit und Selbstbewunderung mißbraucht. Durch die Folgen der Erbsünde ist genau diese selbstische Art durch die ungeordnete Begierlichkeit eine der größten Zerstörungmächte im Menschen geworden.
Zucht bzw. Maß dient also der selbstlosen Form des Umgangs mit jenem Begehren, das durch die äußeren Sinnes des Tastens, des Schmeckens, des Sehens, des Hörens und Riechens dem Menschen entsteht. Aufgabe der Tugend von Zucht und Maß ist es, den lustvollen Sinnengenuß so zu zügeln, daß dadurch eine Harmonie zur Maßregel der Vernunft zustande kommt. So aber wehrt die Tugend einerseits der Zerstörung der inneren Ordnung der Kräfte aus unserer eigenen Entscheidungsmitte heraus, die durch die Sünde ja schwach und anfällig geworden ist und so diese wehrende Kraft der Tugend braucht, andererseits bewahrt sie diese innere Ordnung und verwirklicht sie. Harmonische Ausgeglichenheit ist das Zeichen einer reifen Persönlichkeit. Zucht und Maß heißt, sich selbst im Griff haben. Nicht alles, was wir leibhaft oder gemüthaft empfinden oder begehren, darf uns einfach mit sich fortreißen, sondern muß im Licht der Vernunft geprüft werden.

3. Besonders gilt diese wahrende und wehrende Aufgabe von Zucht und Maß natürlich im Bereich jener Kräfte, die der Daseinserhaltung des Einzelnen und des ganzen Menschengechlechtes dienen, nämlich der Kräfte aus dem Nahrungs- und Geschlechtstrieb. Sie sind für die Selbstbehauptung, die Selbstbewahrung und die Selbsterfüllung des Menschen zentral und unersetzlich. Aber gerade deshalb können sie auch am meisten Unruhe in das Gemüt tragen. Die Versuchung ist besonders groß, diese Kräfte selbstisch zu mißbrauchen, sodaß aus Kräften, die eigentlich dem Erhalt des Menschen dienen, im Mißbrauch Kräfte der Selbstzerstörung werden, mehr noch als bei allen anderen Kräften.
Dennoch darf die Tugend von Zucht und Maß nicht einseitig oder übertrieben nur auf den geschlechtlichen Bereich oder die Nahrungsaufnahme bezogen werden. Leider hat neben einer ungesunden Vergötzung der Geschlechtslust durch die Sexwelle der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts und die dadurch bedingte seelisch-moralische Zerstörung ganzer Generationen, auch ein schwelender Manichäismus von der anderen Seite her, der also die Geschlechtslust als unrein und unter der wahren Würde des Menschen ansieht, obwohl sie doch Gabe Gottes ist, wenig dazu beigetragen ein unbefangenes und ausgewogenes Bild der menschlichen Geschlechtlichkeit zu fördern. Anders die Lehre des hl. Thomas dazu: für ihn ist die Geschlechtskraft und die damit verbundene Geschlechtslust ein "überragendes" Gut, keine Sünde, immer vorausgesetzt allerdings, daß Maß und Ordnung gewahrt sind. Dabei ist der Zeugungssinn nicht der einzige und ausschließliche Sinn der Geschlechtskraft, die nur in der Ehe ihre eigentliche Erfüllung findet, sondern sie dient jener Gemeinsamkeit des Lebens, die dem Menschen als Menschen ein Gut ist. Weil die Geschlechtskraft ein so hohes Gut ist, braucht sie die gegen Mißbrauch wehrende und sie in ihrem Wert wahrende Leitung durch die Vernunft, die ihr also erst das Maß gibt, das für sie recht ist. Und damit auch die Tugend von Maß und Zucht.

4. Der hl. Augustinus lehrt: " Es sei ganz und gar gleichgültig, was und wieviel einer esse, sofern dabei nur das Wohl derer, mit denen er Gemeinschaft habe, und sein eigenes Wohl und das Erfordernis der Gesundheit gewahrt werde: worauf es ankomme, sei einzig dieses: mit welcher Leichtigkeit und Heiterkeit des Herzens er darauf zu verzichten möge, wenn Not oder Sollen es verlangen."
Das Fasten des Leibes ist so ein "Sollen", weil es notwendig ist, daß wir es uns etwas kosten lassen, wirklich das zu sein, was wir sein sollen: freie Personen, die ihre Sinnlichkeit nicht zu abhängigen Sklaven macht. Denn der Aufruhr der Sinnlichkeit in uns ist so stark, daß wir diesem Aufruhr nur durch das Fasten wehren können, damit dadurch unser Geist frei wird, die rechte innere Ordnung in unserem Streben frei zu wahren. So aber ist das Fasten viel wichtiger und viel zentraler mit dem christlichen Menschenbild verknüpft, als es bloß die Erfüllung der Fastengebote der Kirche nahelegen würde, die leider so manche nicht besonders ernst nehmen. Darüber hinaus aber bekommt das Fasten gerade in der Fastenzeit auch vom Glauben her eine zusätzliche, wichtige Bedeutung: denn durch die Fastenzeit sollte der Christ auf die Mitfeier der Geheimnisse des Todes und der Auferstehung Jesu Christi vorbereiten und daran gnadenhaft Anteil erlangen, was aber nur in einem bereiteten menschlichen Gefäß eines geordneten und freien Herzens möglich ist. Und dazu braucht es das körperliche Fasten, als Mittel der Tugend von Zucht und Maß.

5. Darüber hinaus hat die Tugend von Zucht und Maß aber noch viele andere wichtige Betätigungsfelder. Der natürliche und insofern gute Geltungstrieb etwa kann als Hochmut oder Arroganz selbstisch mißbraucht werden, durch die Tugend von Zucht und Maß aber selbstlos gezügelt werden, um so sich in echter Demut selbst zu bewahren. Oder der angeborene Hunger nach Erkenntnis kann selbstisch mißbraucht werden, wobei der hl. Thomas hier vom Laster der curiositas (=Neugier) spricht, die im bloß neugierigen Haschen nach Erkenntnissen besteht, aber auch im sich selbst wichtig machenden Getratsche über Andere, das die nötige Diskretion und Zurückhaltung verletzt. Positiv sieht der heilige Thomas hingegen die studiositas, als geduldiges und lernbegieriges Mühen um wahre Erkenntnis.

6. Was dem Weltmenschen bloße Einschränkung des Sinnengenusses ist, also unangenehm und freudlos erscheint, ist für den Christen Ausdruck seiner Freiheit und Würde. Die Opfer der ungezügelten Leidenschaft sind heute das Heer der Süchtigen, das uns umgibt, jene innerlich Zerstörten, die uns vor Augen führen, wohin ein Mensch, eine Gesellschaft kommt, die Zucht und Maß verloren hat.
Der hl. Thomas lehrt, daß das Erkennungszeichen der inneren Echtheit von Zucht und Maß nicht ein finsteres, frustriertes Gesicht sei, sondern die Heiterkeit eines Herzens, das in sich die wahre Ordnung besitzt. Wäre nicht dies auch ein Grund, diese Tugend mehr zu üben?

R. Knittel.